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3.5.2000
"Unzulässige Generalisierungen"
Die Fehlerquote steigt: Eine Zwischenbilanz der Rechtschreibreform

Von Dankwart Guratzsch

Die Welt ist nicht zusammengebrochen durch die Rechtschreibreform . Aber es merken auch die Tolerantesten: Das neue Schriftdeutsch ist ein sprachlicher Rückschritt.

Die größte Pleite erleben die Reformer an den Schulen. Das doch zum Zweck der Vereinfachung erdachte Regelwerk erzeugt mit seiner wichtigsten Regel, der Ersetzung des "ß" nach kurzem Vokal durch "ss", signifikant mehr Fehler als die herkömmliche ß-Schreibung. Dies hat der Leipziger Erziehungswissenschaftler Harald Marx in einem Rechtschreibtest "Knuspels Schreibaufgaben" nachgewiesen, den er sowohl vor als auch nach der Reform mit Schülern derselben Altersstufen veranstaltet hat.

Das Ergebnis ist vernichtend. für die milliardenteure Reform. Danach werden die von der Neuregelung betroffenen S-Laut-Wörter nach anderthalb Jahren Unterricht in der neuen Schreibweise "nicht seltener, sondern häufiger falsch geschrieben". Und: "Offensichtlich führen die reformbedingten Andersschreibungen beim ,ß' und ,ss' auch bei S-Laut-Wörtern, die nicht von der Reform betroffen sind, zu unzulässigen Verallgemeinerungen bzw. Unsicherheiten und somit zu einer höheren Fehlerquote."

Das Urteil von Marx wiegt umso schwerer, als sich der Erziehungswissenschaftler in seiner Studie zu den pädagogischen Idealzielen der Reform bekennt. Nach Abschluss seines Tests stellt er ihr jedoch eine rabenschwarze Prognose aus. Auf "längere Sicht" sei "eher mit einer Verschlechterung der Rechtschreibung, vor allem aber auch mit unzulässigen Generalisierungen von Schreibweisen und Gewohnheitsbildungen bei Jung und Alt zu rechnen".

Angesichts dieser Befunde des ersten wissenschaftlichen Tests auf die Reform werden die verantwortlichen Politiker der Frage nicht mehr ausweichen können, warum sie derartige Tests nicht bereits vor der Einführung durchgeführt haben.

Selbst der Leiter der Mannheimer Rechtschreibkommission, Gerhard Augst, nimmt für sich in Anspruch, den früheren niedersächsischen Kultusminister Rolf Wernstedt um derartige Tests ersucht zu haben. Nach seinen Angaben sei es der Minister gewesen, der sie verweigert habe - derselbe Rolf Wernstedt, der später als Vorsitzender der Kultusministerkonferenz maßgeblichen Anteil an der Durchsetzung der Reform hatte.

Das Desaster der Reform ist also zugleich ein politisches Debakel, so wie ja auch die Abwürgung von nicht weniger als sechs Volksentscheiden dem Demokratieverständnis in der Bevölkerung Schaden zugefügt hat. Als jetzt in Bremen die Initiatoren des dort schon zweiten Volksbegehrens von den Fraktionen der Bürgerschaft Garantien verlangten, dass sie sich an das Ergebnis eines Volksentscheids gebunden fühlen würden, verweigerten die Politiker dies.

Von ähnlicher politischer Qualität ist das, was sich rund um die Mannheimer Rechtschreibkommission abspielt. Die Kommission ist um zwei neue Mitglieder "ergänzt" worden, ohne dass - wie angekündigt worden war - ein einziger Vertreter der Öffentlichkeit hinzugezogen wurde. Sie tagt hinter verschlossenen Türen, als ob es um Staatsgeheimnisse ginge. So sieht die "Transparenz" aus, mit der über das sprachliche Werkzeug von 80 Millionen Mitteleuropäern befunden wird.

Wie fehlerhaft die neue Rechtschreibung selbst in den Augen dieser "Väter" der Reform ist, beweist der soeben vorgelegte "Zweite Bericht" der Kommission. Darin beklagen sich die Professoren auf gerade drei Seiten, dass ihre eigenen Korrekturvorschläge für die Reform von den Politikern vom Tisch gewischt worden seien. Gleichzeitig räumen sie ein, dass sie fast nur noch mit dem Kampf gegen unterschiedliche Schreibweisen in Wörterbüchern und der Beantwortung von "Hunderten Anfragen" über "Hintergründe, Ziele und Inhalte der Neuregelung" befasst seien.

Der Gießener Erziehungswissenschaftler Helmut Jochems hat dafür nur noch Hohn und Spott. "Ein halbes Jahr hat genügt, um die Absurdität der neuen Rechtschreibung Journalisten und Zeitungslesern vor Augen zu führen. Davon liest man in ihrem Bericht nichts, aber nun halten es ihnen die Zeitungen vor." Die Empfehlung des Pädagogikprofessors an die Kommissionsmitglieder ist kurz: "Treten Sie zurück!"

Links zur Rechtschreibreform: won.mayn.de/rechtschreibreform/o-adress.html


Quelle: Die Welt; per Mail geschickt bekommen...

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